Schau- und Baustelle Berlin
Architekturfilmreihe.Konzeption: Helmut Weihsmann
FilmvorführungIn Zusammenarbeit mit dem Moviemento präsentiert das Architekturforum Oberösterreich eine weitere vom Film- und Architekturhistoriker Helmut Weihsmann zusammengestellte und kommentierte Dokumentarfilmreihe. Die Stadt selbst und das Stadtleben von Berlin sind das Thema dieser aktuellen Filmretrospektive, denn die ausgewählten Filmbeispiele zeichnen den urbanen Entwicklungsprozess Berlins zu einer der führenden Metropolen des 20. Jahrhunderts nach. Die deutsche Megalopolis der Moderne ist bekanntlich nicht nur eine Reise wert, sondern stellte auch ein wichtiges Kapitel in der internationalen Filmgeschichte dar. Berlin gehört zudem zu einer der dynamischsten „Global Cities“, denn die Stadt erlebt zur Zeit wieder einen ungeheuren Aufschwung und Neustart. Es ist bereits ihre vierte Renaissance: Nach den Idealplänen eines sog. „Spree-Athen“ zur Zeit des mächtigen Fredericus Rex, der industriellen Gründerzeit, später der unsäglichen und anmaßend monumentalen „Bauutopien“ der NS-Zeit mitsamt ihrer Zerstörungen durch den Bombenkrieg, danach der progressiven Ära des deutschen Wirtschaftswunders mit einem totalen Wiederaufbau steht erneut die architektonische Umgestaltung der ehemals tragisch geteilten Stadt zu einer kulturellen und wirtschaftlichen Metropole von weltweiter Bedeutung auf dem Programm. Berlins wechselhafte Geschichte liefert seit ihrer Gründung stets den Stoff für selbstherrlich- repräsentative Staatsutopien, aber auch düstere Untergangsmythen: Weltbewegende Ereignisse und permanenter Wandel gaben seit jeher dieser Stadt ihre Gestalt und ihren Charakter. Dabei werden die wichtigsten Etappen der Stadt- und Lokalgeschichte behandelt: Anfänge der Modernisierung, Industrialisierung und Umstrukturierung im ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – sowohl zur Kaiserzeit als auch in der Weimarer Republik –, später unter Adolf Hitler und Albert Speer mit dem Ausbau der geplanten Reichshauptstadt unter dem neuen Namen „Germania“ im Dritten Reich. Nach der fast vollständigen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg bzw. einem rücksichtslos profitorientierten Wiederaufbau und der endgültigen Teilung der Stadt durch den Bau der Berliner Mauer erlebte Berlin nach der Wende 1989 seine Wiedervereinigung. Aber auch der großzügige Ausbau Berlins zur nationalen Hauptstadt wird in einigen Schlüsselessays und Filmdokumentationen kritisch beleuchtet. So ist das „Neue Berlin“ zu einem Mythos der Spät-Moderne geworden, aber auch zu einem Ort, an dem die deutsche Geschichte unmittelbar erleb-, erfahr- und sichtbar wird. Das alles macht Berlin interessant und zudem zu einem außergewöhnlich urbanen Ort, zu einer Weltstadt mit ebenso herbem wie liebenswertem Flair.
Geburt der Hauptstadt [120min.]
Von Spree-Athen bis Germania
Dienstag, 25. März 2003 um 19.30 Uhr
Berlin um 1910 [Archivtitel]
Produktion: © Mutoskop. Deutschland, ca. 1910, 3 min. SW, stumm, 16 mm.
Diese anonyme Produktion gehört zum überaus populären Genre der „Reise-Städtebilder“ im frühen Lichtspieltheater (Kintopp), wobei einige Wahrzeichen wie bekannte Straßen- und Platzräume von Berlin abgelichtet sind. Konzipiert als Kino-Aktualität in einer Form, die wir heute als klischeehaft be-zeichnen, bringt das frühe Filmdokument eine Reihe von einzelnen, voneinan-der isolierten Sujets, gemischt mit Städte- und Straßenbildern (points de vues), die wir durchaus als einen touristischen Bilderbogen bezeichnen können.
Eine Hochbahnfahrt durch Berlin
Produktion: © Mutoskop. Deutschland, 1910, 5 min. SW, stumm, 35 mm.
Parallel zur reinen, positivistischen und trockenen Dokumentation einer Stadt mit ihren Baudenkmälern und Sehenswürdigkeiten waren die ersten Kameraoperateure ebenso an dem quirligen Leben und Treiben der modernen Großstadt interessiert, sie waren sozusagen durch Tempo und Masse der Metropole berauscht. So erlebt man bei dieser „Geisterfahrt“ auf der Berliner Hochbahn nicht nur ungewöhnliche Stadtperspektiven im Schnellverfahren, sondern sieht und erlebt den Stadtraum in der Beschleunigung ganz anders.
Im Schatten der Weltstadt
Albert Viktor Blum. Deutschland, 1930, 11 min. SW, stumm, 35 mm.
Der aus Brünn gebürtige Regisseur gehörte zum engeren Kreis der KPD und deren Filmorganisation Prometheus in Berlin und arbeitete vorwiegend als Cutter und „Bildschneider“ für die berühmte „Arbeiter Illustrirte Zeitung“. In diesem „Sozial-dokument“ kontrastiert der Regisseur die wohlhabenden Villenviertel im Westen von Berlin (Grüneberg und Babelsberg) mit der ärmlichen Wohn-wirk-lichkeit von Wedding, Pankow und Spandau, indem er seltene Bilder des sozialen Elends in den Arbeiterquartieren zeigt.
Das Klassische Berlin
Walter Schneider. Deutschland, 1937, 13 min. SW, 16 mm.
Die kurze Filmreportage entstand anlässlich der pompösen 700-Jahr-Feier Berlins unter der NS-Herrschaft durch eine private Filmgesellschaft (Maxim-Film) und ist ein stimmungsvolles Stadtporträt von Berlins ehemaligem Glanz vor dem von den Nazis entfachten Weltkrieg, wobei die wichtigsten ehemaligen prachtvollen Residenzen, Paläste, Kirchen und manche Staatsbauten der preußischen Baumeister von Knobelsdorff bis Schinkel vorkommen. Der ambitionierte Kameramann des typisch „unpolitischen“ NS-Schau- und Reisefilms war Waldemar Lemke.
Schnelles, sicheres und sauberes Berlin
Ernst Kochel. Deutschland, 1938, 12 min. SW, 16 mm.
Der kurze Propaganda- bzw. Werbefilm dokumentiert scheinbar objektiv und nüchtern die Arbeit der städtischen Verkehrsbetriebe, der Berliner Müllabfuhr und der Straßenreinigung, indem er Sauberkeit mit Reinheit, Effizienz und Leistungsfähigkeit gleichsetzt. Auch die damals vorbildliche Müllorganisation mit ihrem sachlich-funktionalen Verladebahnhof am Spree-Hafen vom Jungarchitekten Paul Baumgarten wird im Betrieb vorgestellt.
Berlin – Symphonie einer Weltstadt
Leo de Laforgue. Deutschland, 1943, 76 min. SW, 16 mm.
In Berlin der rausch-beschwingten 20er Jahre fand der Amateurphotograph und Hobbyfilmer Laforgue sein Sujet und Thema, das ihn ein Leben lang nicht mehr losließ. Unmittelbar nach der sog. „Machtergreifung“ Hitlers schwärmte er im damaligen Zeitgeist eines „Neuen Deutschlands“ von einem groß angelegten Berlin-Film, den er sich „sinfonisch und abendfüllend“ vorstellte, wobei er für Manuskript, Produktion, Regie und Kamera allein verantwortlich zeichnete. Nach der Uraufführung wurde der Film um 1950 in „Berlin wie es war“ ummontiert und schließlich als „Gigant Berlin: Die erregendste Stadt der Welt“ (1964) fertiggestellt. In „Sinfonie einer Weltstadt“ steht der Gegensatz zwischen dem dörflichen Berlin und dem Flair der modernen Großstadt im Vordergrund.
Blickpunkt Berlin [91 min.]
Die Stadt einst und jetzt
Mittwoch, 26. März 2003 um 19.30 Uhr
Berlin
Hans Cürlis. Deutschland, 1937, 23 min. SW, 16 mm.
Dieser idealtypische NS-Kultur- und Stadtfilm stammt von keinem geringeren als Hans Cürlis, dem bedeutenden Kulturfilm-Meister, der im Laufe seines wechselhaften Lebens und Schaffens wohl über 500 Kulturfilme über bedeutende bildende Künstler und Stilepochen herstellte. Im Gegensatz zu den etwas bekannteren Künstlerporträts der NS-Zeit hatte er nur wenige Reise- und Stadtfilme produziert. Der Filmbericht vom sowohl historischen als auch aktuellen Berlin mit propagandistischen Kommentaren zu Wirtschaft, Handel, Verkehr, Kultur und Sport geriet volkstümlicher als seine belehrenden Kunstdokumentationen.
Duo-City [Berlin-Wien]
Ulf Staeger. Österreich, 1992, 4 min. SW, 16 mm.
In diesem anregenden Animationsfilm eines Filmstudenten der Hochschule für angewandte Kunst (Trickfilm- und Malklasse Maria Lassnig) erlebt man einen simultanen Spaziergang durch das urbane Wien und Berlin im visuellen Vergleich der urbanen Signale, Piktogramme, Verkehrssymbole, Wahrzeichen etc. beider Städte.
Doppelgänger
Ulf Staeger. Österreich, 1998, 7 min. Farbe, 35 mm.
Der Zeichentrickfilm ist eine inhaltliche und formale Fortsetzung seines früheren Bruders „Duo City“: Alltagsszenen aus Berlin und Wien in einem Bild nebeneinander. Verkehrsmittel und Menschen werden zu Schemen und Zeichen in einem einzigen urbanen Raum, in dem sich die räumliche Trennung beider Städte verwischt.
Nomadomany
Michael Schorr. BRD, 1993, 6 min. SW, 16 mm.
Dieser experimentelle Kurzfilm über den Photographen Volker Czerner zeigt den Fotokünstler bei der Arbeit und bedient sich dabei der gleichen Mittel, wie sie der Photograph bei der Erstellung seine Bilder anwandte.
80.000 Shots
Manfred Walther. BRD, 2002, 53 min. Farbe, 35 mm.
Der Berufsphotograph Manfred Walter dokumentierte den Wandel seiner Stadt: Nicht nur die letzten Fahrten der Magnetbahn, sondern auch das hektische Verschwinden der ehemaligen Berliner Mauer. Aus dieser Langzeitbeobachtung entstand ein Essay, geeignet für die städtische und geschichtliche Wahrnehmung. Der Regisseur hat aus 80.000 Einzelphotos eine Montage zusammengefügt. Berlin baut sich ein neues Zentrum, das Kamerauge baut sogleich auch die Bedeutungen mit. So schildert der Filmemacher die Mikro-Prozesse, in denen die normale alltägliche Wahrnehmung, beispielsweise beim Flanieren oder der gelegentlichen Besichtigung neuer Orte, nur Ergebnisse erfasst. Ein faszinierendes Dokument über das Ende einer untergegangenen Lebensepoche und den Übergang in eine andere „Brave New World“ der internationalen Globalisierung.
Neues Berlin [88 min.]
Wiedergeburt einer Hauptstadt
Donnerstag, 27. März 2003 um 19.30Uhr
Berlin-Babylon
Hubertus Siegert. BRD, 2000, 88 min. Farbe, 35 mm.
Von 1996 bis 2000 beobachtete der Regisseur die Umgestaltung Berlins und schuf einen Filmessay über die rabiate Aneignung des öffentlichen Raumes, über die hastige Füllung fünfzig Jahre alter Stadtbrachen und die Tilgung unliebsam gewordener Erinnerungen und Symbole der Vergangenheit. Aus allen Himmelsrichtungen nähert sich die Kamera, taucht ein in die Straßenschluchten, verweilt in den tristen Hinterhöfen, schwingt sich über die gigantischen Neubauten am Potsdamer Platz usw. Wir erleben die Protagonisten des gigantischen Umbaus: Berliner Architekten, Stadtplaner und Stadtforscher wie Axel Schultes (Bundeskanzleramt), Josef P. Kleihues, Wolfgang Nagel, Werner Durth und Dorothée Dubrau oder gar prominente Architekten wie Norman Foster (Reichstagsgebäude), Renzo Piano (Benz), Dominique Perrault (Olympisches Radstadion), Helmut Jahn (Sony Center) und Rem Koolhaas treten dabei auf und erläutern ihre Arbeit, wobei sie namentlich nicht identifiziert werden. Ebenso kommen Bauherren, Senatoren, Lokalpolitiker und Bankiers vor, aber nur mehr als Funktionsträger der Macht. Sie geben keine Interviews, keine Statements ab, allein die Musik der bekannten Berliner Punkband „Einstürzende Neubauten“ spricht den Kommentar. Dieser abendfüllende Film führt durch die Emotionen der Widersprüche Berlins. Auf zwanzig Baustellen entwirft Siegert das Bild eines Architekturdiskurses im Sinne des Monopoly-Spiels, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt, eine Gesamtkonzeption aber fehlt. Zurück bleibt der schale Eindruck, dass die Verantwortlichen oft nicht wissen, was sie tun, aber der Stadt ihre Visionen aufdrücken und damit Narben reißen, die nie wieder heilen. Die babylonische Zivilisationsfabel von der Gewalt des Bauens lebt fort in der wieder vereinten Metropole.
mit Einführungen von Helmut Weihsmann
Filmtexte: Helmut Weihsmann © 2003
